Todesstrafe für ein freimütiges Gespräch in Pferseer Gaststätte

Dass Andreas Reichart, Inhaber eines Friseursalons in der Uhlandstraße 1, ein Hitlergegner ist, war in Pfersee zur Nazizeit kein Geheimnis. Dass er ab August 1943 nicht mehr da war, sprach sich im Stadtteil auch herum. Man erzählte, er sei in Dachau im KZ, weil er im Geschäft gesagt habe: „Den Hitler, den tät ich gern rasieren.“ Da er nie mehr zurückkam, wurde gesagt: „Umgebracht haben sie ihn.“ Noch heute ist diese Version in Umlauf.

Richtig ist daran nichts. Es ist zwar wahrscheinlich, dass Kunden den Satz von der Rasur des Führers aus dem Mund des Friseurmeisters gehört haben, aber Anlass zu seiner Verhaftung war er nicht. In den Protokollen zu seiner Vernehmung kommt er nicht vor.

Grund für die Verhaftung waren Äußerungen, die der 51-jährige Nazigegner Ende Juni 1943 in der Gaststätte Goldener Engel (Augsburger Straße 13) getan hatte und eine darauf hin erfolgte Anzeige bei der Gestapo. Reichart hat mit Bekannten die Gaststätte besucht. Sie saßen an einem Tisch mit dem zweifach beinamputierten Leutnant Schmidberger, den Reichart kannte. Er sprach ihn auf seine Verwundung an und geriet darüber ins Politisieren. Der Krieg sei nicht nötig gewesen, die Russen wären nie nach Deutschland gekommen, der Führer kriege ja nie genug, er wolle die Welt erobern. Russland habe gewaltige Reserven, man sehe doch wie gut genährt die Fremdarbeiterinnen seien und unsere Mädchen seien zaundürr. Der Nationalsozialismus sei auch nur ein Abzweig des Kommunismus. „Wir haben auch keine Freiheit! Man darf nichts sagen und nicht Radio hören wie man will.“ Der Leutnant in Uniform verbat sich solche Meckereien und drohte Reichart mit einer Anzeige, damit er dort hin komme, wo er hin gehöre.

Am nächsten Tag suchte der den Offizier in der Wohnung seiner Eltern auf und bat ihn, doch nichts zu unternehmen. Der „Alte Kämpfer“ (Mitglied der SA seit 1921 und seit 1933 der SS) ließ sich davon nicht umstimmen und zeigte Reichart vier Wochen später bei der Gestapo an. Anlass war wahrscheinlich ein Gespräch mit dem ihm gut bekannten Gestapomitarbeiter Sönig.

Nach einer Vernehmung durch Kriminaloberassistent Friedrich Obermeier wurde Reichart am 11.8. in Polizeihaft genommen, am 18.9. ins Gestapogefängnis nach München geschafft, am 21.9. nach Berlin in die Strafanstalt Moabit gebracht und nach einem Bombenangriff in die Anstalt Tegel verlegt. Die Ergebnisse der Ermittlungen gingen an den Reichsanwalt beim Volksgerichtshof Bruchhaus. Bruchhaus war nach dem Krieg Staatsanwalt in Wuppertal, bis er 1961 bei vollen Bezügen vorzeitig in Pension ging. In der Ermittlungsakte wurde festgehalten, Reichart sei von 1923 bis 25 Mitglied der SPD und des Reichsbanners gewesen und im Stadtteil als Nörgler und Meckerer bekannt und werde als Sozi angesehen. Auch zu Pfarrer Balleis von Herz Jesu halte er guten Kontakt.

Am 26.9. schrieb er aus der Haft einen Brief an seine Familie.
„Meine Lieben zu Hause! Liebste Frau! Centa, Andreas, Hanny!
Teile Euch mit, daß ich seit 21.9.43 hier bin und in großer Sorge um Euer Wohlergehen bin. Wie geht es zu Hause? Wo ist mein Sohn Andreas? Ist er noch auf Montage? Schreibt mir baldigst einen Brief. Habt Ihr den Brief von München noch erhalten? Meine Lieben, was soll das noch werden? Es ist zum Verzweifeln. 7 Wochen bin ich nun von Euch fort und noch kein Ende zu sehen. Ich bitte Euch, vergesst mich nicht! Es ist ein furchtbarer Schlag der mich getroffen hat. Ich leide so sehr darunter, daß es am Verzweifeln heruntergeht. Wie ich schon schrieb, haltet in dieser Zeit zusammen, und sollten wir uns nicht mehr sehen, so betet für mich, euren unglücklichen Vater. Viele Grüße an meine Brüder, Verwandten, Bekannten, Kunden etc. Bleibt einander treu, lebt gut miteinander, wie es bei uns immer war. Mutter! Heuer waren es 25 Jahre, daß wir 1918 heirateten. Ich danke dir für Alles Liebe, Gute und Alles, was Du für mich getan
hast. Lebe wohl, auf ein Wiedersehen im Jenseits, sollte ich nicht mehr heimkommen. Andreas, Du mein Stolz, auf Wieder- sehen. Grüße Deine Frau, Büble! Centa, meine Hoffnung, verlaß die arme Mutter nicht! Ihr zwei müßt es tun und Mutter versorgen. Euer Vater war immer ein braver Mensch, glaube ich und vergesst mich nicht. Es ist so furchtbar, wegen dem guten Namen, den ich hatte. Nun zum Schluß ein Wiedersehen.
Küße und grüße Alle noch herzlichst
Euer Vater. Andreas“

Warum die Absendung dieses Briefs nicht genehmigt wurde, ist nicht zu verstehen, kann nur als Schikane verstanden werden. In einem weiteren Brief bat er den Augsburger Rechtsanwalt Franz Reisert, seine Verteidigung zu übernehmen. Reisert war ein katholisch-konservativer Regimegegner und hatte Kontakte zum Kreisauer Kreis. 1945 wurde er vom Volksgerichtshof zu 5 Jahren Haft verurteilt. Zuerst wollte er das Mandat annehmen, lehnte aber dann aus gesundheitlichen Gründen ab.

Am 15. Dezember 1943 beginnt um 11 Uhr der Prozess wegen Wehrkraftzersetzung. Der Sohn des Angeklagten war im Publikum. Es werden die vier Zeugen vernommen, die mit am Wirtshaustisch saßen. Nach den Aussagen von Berta Reichart, der Witwe, soll Schmidberger eine regelrechte „Propagandarede“ gehalten haben. Um 12.30 Uhr verkündet der 1. Vorsitzende, Volksgerichtsrat Lämmle, das Urteil: „Andreas Reichart hat im Sommer 1943 in einem öffentlichen Lokal in Gegenwart von Soldaten und anderen Volksgenossen schwer defaitistische Reden geführt. Er wird daher zum Tode verurteilt und ist für immer ehrlos.“
Und: “Da Reichart verurteilt ist, hat er die Kosten des Verfahrens zu tragen.“ Dabei werden schon die Kosten für die bevorstehende Hinrichtung aufgeführt: 300 Mark.
Am 27. Dezember wurde Andreas Reichart morgens um 7 Uhr tot in seiner Zelle aufgefunden. Der Leiter des Strafgefängnisses Tegel teilte dazu dem Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof mit: „Der am 15.12.1943 zum Tode verurteilte Friseurmeister Andreas Reichart, geb. am 30.10.1891 in Augsburg, hat am 27.12.1943 Selbstmord durch Erhängen begangen, obwohl er an den Händen gefesselt war.“ Die Mitteilung an die Familie hatte diesen Wortlaut:

Reichart wird auf dem Friedhof in Marzahn bestattet. Seine Frau lässt ihn 1948 exhumieren und einäschern. Die Urne wird nach Augsburg überführt und in einem Familiengrab auf dem Westfriedhof beigesetzt.
Für Berta Reichart zieht sich ein Kampf um Entschädigung von 1949 über Jahre hin, bis er endlich 1961 seinen Abschluss findet. Sie bekommt für außergerichtliche Kosten 137 DM erstattet, durch Unterstützung der Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten eine Rente von 88 DM, die zu ihren Lebzeiten bis auf 207 DM erhöht wird. Die Erstattung aller sonstigen Kosten und Verluste wird abgelehnt. Die Gesundheit von Berta Reichart ist schließlich zerrüttet. Bis 1956 hat sie den Betrieb mit Unterstützung ihrer Kinder weiter führen können. 1978 stirbt sie im Alter von 84 Jahren.


Alfred Hausmann


Veröffentlichte Quellen:
Einwohnerbücher der Stadt Augsburg 1928-35

Unveröffentlichte Quellen:
Familienbogen Reichart, Sterbefallmeldung Standesamt Berlin: Stadtarchiv Augsburg Bestand Meldebögen,
Strafakten Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof, Ermittlungsakten Geheime Staatspolizei Stapoleitstelle München im Bundesarchiv Berlin,
Nachlassakte Amtsgericht Augsburg, Staatsarchiv Augsburg,
Entschädigungsakten Bayerisches Hauptstaatsarchiv München.


Wohnungen
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Uhlandstr. 1


Orte der Verfolgung
Untersuchungshaft Gestapo Augsburg, Prinzregentenstraße,
Gefängnis am Katzenstadel in Augsburg,
Untersuchungsgefängnis der Gestapoleitstelle München,
Strafanstalt Moabit, Berlin,
Strafanstalt Tegel in Berlin